Montag, 7. April 2008

Gekreuzte Wege

„Leidest du unter deiner Identität?“
Sie musste sich fassen um mit einem Nicken die Frage zu beantworten.
Genau wie Frank selbst wurde sie 1970 gebo­ren. In den 70er Jahren sollten ja wohl auch in Russland, ähm der Sowjetunion die Narben des großen Krieges verschwunden sein. Zumindest die Zerstörungen. Bei vielen auch die Bitterkeit. Vielleicht auch die Erinnerung. Ganz sicher aber noch nicht die in den Herzen auf Genera­tionen eingepflanzte Angst vor den mächtigen Nachbarn im Westen.
Nackt lag sie an seiner Seite und begann von ihrer Kindheit zu erzählen.
Frank versuchte sich vorzustellen, wie Sie auf­gewachsen war. Sicherlich nicht einfach mit einer Propaganda, die die eigene Herkunft ab­lehnt.
Sie erzählte ihm, dass ihre Eltern die „Heimat“ bereits nicht mehr kannten. Dass ihre Großel­tern, als der Krieg sich näherte, ihre Heimat an der Wolga verlassen und alles, ihren Besitz, ihre Existenz und auch ihre Erinnerungen zu­rücklassen mussten, um in einer lebensfeindli­chen Umgebung hinter dem Ural mit nichts neu anzufangen. In Zeiten eines Krieges, in dem es um das nackte Überleben ging und Diktatoren ein Gespinst von Angst und Lügen um alle Menschen bauten. Dass aber Sibirien ihrer Meinung immer noch besser war, als in der kasachischen Steppe dahin zu vegetieren und mit Kamelkacke Feuer zu machen.
Das in der Zeit, in der sie in die Schule ging, sich plötzlich einige Dinge änderten. Dass auch deutsch unterrichtet wurde. Dass plötzlich auch nicht alles deutsche schlecht war, zum Beispiel gab es da einen vorbildlichen Antifaschisten mit Namen Thälmann, der an der Seite der Sowjetmenschen stand und sich dem National­sozialismus entgegenstellte. Dass dieser Thäl­mann, abseits aller Verklärungen durch die Kommunisten, für Sie persönlich nicht mehr und nicht weniger als ein Bindeglied zu ihrer Identität und ihren Wurzeln darstellt.
Es gelang ihm nicht.
Frank war im Osten Deutschlands aufgewach­sen. Er konnte aus den Tiefen seiner Kindheits­erinnerungen das Wirken der Propaganda auf ihn hervorholen und rekonstruieren. Lebhaft in Erinnerung war ihm noch der Besuch in einem slowakischen Kinderferienlager. Wie viel Spaß er dort hatte. Wie toll die Abende an den Lager­feuern waren. Wie persönlich sich die Betreuer um jeden einzelnen von Ihnen gekümmert hat­ten. An die Morgenapelle der Jungen Pioniere – ideologisch halb so wild, dachte er. Und an den Besuch an einem Partisanendenkmal. Ziemlich beeindruckend, alles aus polierter Stein mit einem großen Museum. Alle Jungs waren töd­lich gelangweilt und desinteressiert.
Frank versuchte in diesem Museum die Bilder der Propaganda zu verstehen. Es erschrak ihn. Wie böse die Deutschen dargestellt worden. Und wie heldenhaft und strahlend die anderen – die dann auf den Bildern auch noch gewannen! Ungerecht – er wollte bei den Guten sein!
Und ... ganz wichtig für einen Zwölfjährigen, dass er beim Abschied aus dem Ferienlager weinen musste. Nein, nicht wegen dem Lager­feuerquatsch, sondern wegen eines blonden slowakischen Mädchens, Namen längst verges­sen, lange, lockige blonde Haare, ihrem Alter vier Jahre voraus. Das heißt, eigentlich waren ihre Haare nicht blond, sondern hatten einen leichten rötlichen Schimmer. Jeder Junge wollte ihr Freund sein. Frank hatte ihr viel von sich gezeigt. Sie hatten sich wohl auch geküsst. Sie hatten sogar einmal gestritten – genau – jetzt fiel es ihm wieder ein - wegen seines Stolzes. Frank wollte nicht zugeben, dass er einer von den Bösen war.
Später, mit 17, war er dank großzügigem FDJ-Reisesponsorings dann auch in Auschwitz ge­wesen. Keine Propaganda. Zumindest keine die in seiner Erinnerung haften blieb. Aber er kann sich gut an das Grauen erinnern, welches er inmitten der übriggebliebenen Baracken emp­funden hatte. Durch schnurgerade Wege heult der Wind das Grauen. So weit man sehen konnte in jede Richtung Baracken. Und in ih­nen Verschläge mit eingeritzten Notizen, Zeug­nisse der Menschen, deren Leben hier zu Ende ging. Der Geruch von Desinfektionsmittel und die immer noch zu spürende Anwesenheit vom Tod. Nichts war mit diesem Ort vergleichbar, nicht Dachau, nicht Buchenwald, kein Friedhof, kein Schlachtfeld und erst recht keine slowaki­schen Partisanendenkmäler aus poliertem Tra­vertin.
Das Grauen hatte diesen Ort für immer in Be­sitz genommen. Es war an diesem Ort immer noch da, immer noch zu spüren.
Ob er etwa einer von den Bösen war?
Was mochte das für den Menschen, der jetzt neben ihm im Bett lag, bedeuten? Sie war jetzt hier und wurde nicht länger abgelehnt. Ihre Zukunft lag vor ihr. Nichts konnte sich mit ih­rem Ehrgeiz messen. Sie würde es schaffen, keine Frage. Sie brauchte auch keine Hilfe von ihm, da war er sich sehr sicher.
Aber konnte sie Liebe annehmen? Wie würde er sich nach der Nacht mit ihr fühlen? Frank war sich nicht sicher, ob er es herausfinden wollte.

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viel (Gast) - 24. Apr, 20:30

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